Wie exakt ist die Ritzhärteprüfung?
Der Bleistift als Messgerät
Bei der Ritzhärteprüfung nach Wolff-Wilborn werden Bleistifte mit unterschiedlichen Härtegraden über die zu prüfende Oberfläche geschoben. Als Bleistifthärte gilt die Bezeichnung der beiden Bleistift-Härtegrade, von denen der weichere eben noch auf dem Lackfilm eine Schreibspur hinterlässt, während der nächsthärtere eine fühlbare Kerbe auf dem Film erzeugt.
Die Bleistift-Ritzhärteprüfung nach Wolff-Wilborn ist bei vielen Anwendern noch immer gebräuchlich.
Die Vorteile: Schnell und unkompliziert
Dieses bewährte Verfahren bietet die Vorteile, dass es sich schnell und unkompliziert durchführen lässt — und dass das nötige Equipment einfach zu
beschaffen ist. Alles, was man braucht, sind Bleistifte in abgestuften Härtegraden und ein Halteklotz, mit dessen Hilfe der Bediener die Bleistifte im 45°-Winkel über die zu prüfende Fläche führt. Aus diesen Gründen hat das Verfahren nicht nur eine lange Tradition, sondern offenbar auch Perspektiven für die Zukunft: In den asiatischen Märkten ist die Bleistift-Ritzhärteprüfung nach Wolff-Wilborn von kontinuierlich wachsender Bedeutung.
Die Nachteile: Reproduzierbarkeit und Nuancierung fehlen
Dennoch ist jeder Anwender gut beraten, die von ihm eingesetzten Prüfmethoden hin und wieder zu hinterfragen, um Optimierungschancen zu nutzen. Hier bietet die Bleistift-Härteprüfung in der Tat einiges Potenzial. Denn obwohl die ISO Norm 15184 (Beschichtungsstoffe — Bestimmung der Härte von Beschichtungen durch Prüfen mit Bleistiften/ Bleistifthärte) eine klare Vorgehensweise vorgibt, sind doch auch einige andere Methoden der Prüfung mit Bleistiften gebräuchlich, die zum Teil nicht mehr gültig sind, was den Anwendern oft aber nicht bewusst ist. Das bedeutet, dass in manchen Fällen Messergebnisse verglichen werden, die gar nicht vergleichbar sind. Zum Beispiel gibt es differierende Vorgaben zur freizulegenden Länge der Graphitmine. Die Angaben schwanken zwischen 3 mm und 6 +/-1 mm. Der Bleistift wird bei einigen Prüfrichtlinien im 30°- statt 45°-Winkel geführt, dabei wird der Gewichtsblock geschoben oder aber gezogen. Zur Geometrie des prüfrelevanten Endes der Graphitminenspitze — „plan“ oder „abgerundet“ — gibt es verschiedene Auffassungen, ebenso zur Art des Schleifpapiers, mit dem die Graphitmine präpariert wird. Dasselbe gilt für die Prüflast, die von 300 g bis 7,5 N variiert.
Bleistift ist nicht gleich Bleistift
Hinzu kommt ein Faktor, über den viele Anwender der Bleistift-Ritzhärteprüfung nicht informiert sind: Es gibt keine Norm zur Härteabstufung von Bleistiften. Hier hat vielmehr jeder Hersteller seine werksspezifisch festgelegten Härteabstufungen, und das entzieht jeglicher Reproduzierbarkeit des Verfahrens die Grundlage: Eine Bleistiftmine der Härte “3H“ von Hersteller X entspricht mit ziemlicher Sicherheit nicht exakt der Härte “3H“ von Hersteller Y. Faktisch kann bereits eine einzige Abweichung von der durch die ISO 15184 vorgegebene Arbeitsweise zu unerwünschten, möglicherweise nicht als solche erkannten Ungenauigkeiten in den Prüfresultaten führen. Mit einigen dieser hier dargestellten Varianten verändert sich das Prüfergebnis sogar erheblich. Außerdem besteht der Verdacht, dass die Stabilität der Eigenschaften von Bleistiften zeitlich begrenzt ist. Somit könnten schon innerhalb ein und derselben Charge alters- beziehungsweise lagerungsabhängige Unterschiede auftreten, die natürlich auch die Messresultate beeinflussen.
Unsicherheiten bei der Auswertung
Unsicherheiten gibt es auch bei der Auswertung der Ritzprüfung. Es ist nicht ganz einfach, die gegebenenfalls vom Bleistift hinterlassene Prüfspur zu interpretieren und zu kommunizieren. Die Bleistiftmine kann eine plastische Verformung auf der zu prüfenden Oberfläche hinterlassen, sie kann andererseits auch die Oberfläche verletzen. Auch eine Spur aus abgeriebenem Graphit ist möglich, deren Deutlichkeit auch von feinsten Strukturen auf der zu prüfenden Oberfläche beeinflusst wird. Die Skepsis gegenüber dem Bleistift-Prüfverfahren ist umso angebrachter, als in vielen Branchen die Anforderungen an die Oberflächenqualität von Bauteilen immer höher werden. Eine ebenso breitgefächerte wie fein abgestufte Darstellbarkeit auch von geringen Unterschieden/Tendenzen/Nuancen wird daher immer wichtiger, und unter diesem Aspekt ist die „Bleistiftmethode“ aus den geschilderten Gründen sicherlich nicht das Verfahren der Wahl.
Ergebnisse einer Ritzprüfung sind nicht immer einfach zu interpretieren.
Es gibt Alternativen
Angesichts dieser Unwägbarkeiten mag es durchaus sinnvoll erscheinen, sich nach Alternativen umzusehen — und diese Alternativen gibt es. Dem interessierten Anwender stehen diverse weitere normgerechte Prüfmethoden zur Verfügung, von denen sich im Idealfall jeweils mindestens eine besonders gut eignet, die zu prüfenden Eigenschaften des Produktes präzise zu erfassen und Qualitätsunterschiede breitgefächert darzustellen.
Mit anderen Prüfmethoden werden deutlich exaktere und reproduzierbarere Ergebnisse erzielt.
Beispielhaft sei hier der „Scratch Hardness Tester 413“ von Erichsen erwähnt. Die Probe wird bei diesem Gerät auf einem Drehteller befestigt. Das Prüfwerkzeug befindet sich an einem Lastarm mit verstellbarem Gewicht, mit dem sich der Druck des Werkzeugs auf die Probe regulieren lässt. Der Widerstand der Probe gegen diese Einwirkung wird anhand der Kratzspur visuell bewertet. Dank einer großen Auswahl an Prüfspitzen deckt das Gerät ein breites Spektrum an Prüflingen und Härtegraden ab. Die feine Abstufung der Prüfkraft in 0,01 N-Schritten schafft die Voraussetzung für sehr präzise Messergebnisse, die als Qualitätsunterschiede objektiv in Zahlenwerten dargestellt werden können. Mit einem solchen „Scratch Hardness Tester“ lassen sich also reproduzierbarere Ergebnisse generieren, die besser zu kommunizieren sind. Daher lohnt es sich in vielen Fällen für den Anwender, seine Kunden und Lieferanten davon zu überzeugen, durch gemeinsame Absprache zu einer neuen Synchronisierung der Prüfmethode und somit zu unmissverständlichen, objektivierbaren und einwandfrei kommunizierbaren Resultaten zu kommen.
Günter Kalinna,
Produktmanager Oberflächentechnik,
Erichsen GmbH & Co. KG